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Im September beginnt wieder die Schule, in welche sich die ABC-Schützen mit ihren Schultüten zum ersten Schultag begeben haben. Irgendwie erscheint die Schultüte wie das Gegenbild des Doktorhutes, der schon so platt geklopft aussieht. Die Schultüte ist wie ein Füllhorn, dem die guten Dinge entweichen. Jedenfalls folgt jetzt das »verschärfte« Sprachstadium, nämlich seine Verschriftlichung, der Schrifterwerb, die Alphabetisierung, die den Vorrang der Sprache vor der Welt besiegelt. Aus diesem Grund erscheint geboten, an ein zentrales Sprachproblem aus der Warte der Philosophie noch einmal zu erinnern:

Für die Philosophie war die Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit eine ausgemachte Sache, bis sich am Ende des Mittelalters ernsthafte Zweifel an dieser Beziehung einstellten. Die Renaissance beklagt in der Folge der spätmittelalterlichen Skepsis ohne Umschweife den Verlust der Ursprache und damit das Entschwinden der Wahrheit, weshalb vorschlagsweise in den (nicht entzifferten) Hieroglyphen oder in chinesischen Schriftzeichen nach einer wahren Botschaft gefahndet wurde.

Schuld an der Amnesie, also am Gedächtnisverlust, an der Desorientierung, am Abhandenkommen der Wahrheit war nach allgemeiner Meinung die babylonische Katastrophe, die Sprachverwirrung als Strafe für die Hybris der Turmbauer. Während also die Anhänger der babylonischen Trauma-Lehre weiter von einer einzigen Ursprache phantasieren, stellt sich allmählich – allerdings sehr spät, eigentlich erst im zwanzigsten Jahrhundert - aus poetischer Warte ein Begriff vom großen Vorteil der Übersetzbarkeit als auch der Unübersetzbarkeit der vielen Sprachen ein. Anstatt sich auf ein Gefangensein in einer jeweiligen einzigen Sprache beschränken zu müssen, kann sich nämlich der/die mehrere Idiome beherrschende SprecherIn zwischen den Sprachen bewegen und genau deshalb erst in den Blick bekommen, wie eigentlich die »Welt« durch die Sprache erzeugt wird. Erst dann kann die Sprache erkannt werden in dem, was sie immer ist, auch in den konkretesten Sprachhandlungen, nämlich Poesie, vorschlagsweise Deutung einer rätselhaften Welt.

Erstausstrahlung Studio Elektra 06 – Sprache & Wahrheit / Nach Babylon: 26. September 2011 auf OktoTV