Die schwache und deshalb auch immer kitschige Kindheit, also das Kindische, ist Effekt eines Verrates, der begangen wird im Namen des Kapitals, genauso wie das alte und verzweifelte Kind einmal Produkt des Verrats an seinem Geschenk-Sein war. Heute ist es so weit, dass das Produkt »Mensch von Mensch« (oder »Geschenk«) zurücktritt hinter die Ware, die auf einfachste Weise zu kapitalisieren ist, indem es einen zu beziffernden Preis erhält. Solange ein Mensch nicht arbeitet, um sich selbst zu erhalten, verfällt er – dies allerdings im Falle des Kindes auf vertuschte Weise – derselben Gattung wie der Rest der Obsorgeempfänger, der Gestützten, der Almosenentgegennehmenden, der HartzIV-Population.
Was fehlt, ist eine ernsthafte neue Auseinandersetzung mit der Position des Kindes, mit dem Wert des Kindes, aus welchem sich notwendig der Wert des Menschen überhaupt herzuleiten hat – dem Lehrsatz folgend: so wie Deine Kindheit sich gestaltet hat, wird sich der Rest gestalten. Dieser Lehrsatz enthält eben die Erkenntnis, dass »das Kind« nicht einfach immer die anderen sind: jeder enthält so weit das Kind, das er war, dass man nicht sagen kann, er sei es nicht mehr. Es gilt also, dem für vermeintlich verloren gehaltenen Kind – wie einem verlorenen Paradies – zu seinem Recht zu verhelfen.
»Kind« kommt im Übrigen von einer indogermanischen Wortwurzel, aus welcher genus, akin, kinship und king stammen. Es bedeutet einfach das „Geboren-Seiende" und in besonderer Hinsicht kommen dann solche gemeinschaftlichen Geboren-Seiende wie ein Stamm oder eine Gruppe ins Spiel, welche wiederum von einem vertreten werden dürfen, der dann diese Geborenheiten stellvertretend in sich fasst: the king. Was sich aus dieser Sinn-Lineage erkennen lässt, ist die große Bedeutung, die dem Geborenen sofort, schon in dem Augenblick, in welches es das Licht der Welt erblickt, zuerkannt wird. Man kann an die Weihnachtsszene denken, in welcher vor Augen geführt wird, dass das Neugeborene anbetungswürdig ist, weil es im besonderen Vollbesitz seiner Kräfte, Eigenschaften, Ausgezeichnetheiten aus der Mutter hervorkommt. Die Bibel kennt mehrere solche Wundergeburten, unter anderem die des Henoch, der aus seiner Mutter Schoß sprang und unmittelbar zu dozieren anhub.
Ein spätes Echo auf diese Idee des enfant prodige ist in Hugo von Hofmannsthals Drama »Der Turm« zu finden, in welchem nach einer tragischen Kollision zwischen Vater und Sohn der Thronfolger schließlich durch den Auftritt eines Kindkönigs ersetzt und erlöst wird. In diesen Geschichten ist die Ungleichzeitigkeit von Seele und Leib zu vernehmen, der Umstand, dass der kleine Leib kein Hinweis auf eine »kleine Seele« ist. Man hat einmal angenommen, dass das kleine Kind bereits das ist, was es sein wird, eine Ahnung von der Größe und Würde einer Seele gehabt. Derlei geht heute in Spekulationen über die Erbmasse und die Richtigkeit der Verkettungen der DNA-Paare auf.
Die Philosophie oder Anthropologie ist herausgefordert, nicht als erstes beim Werkzeuggebrauch, bei der Sprache oder bei der Disziplinierung des Körpers und des Geistes anzusetzen, sondern ganz einfach beim Kind, das eben keines ist. Die Einholung, die Rechtfertigung des Kindes wäre dann die Voraussetzung für eine mögliche und höchst fällige Rehabilitierung des Kindes als Erwachsener. Es würde damit auch – in einem zweiten Schritt – gelingen, die seltsamen Tendenzen einer Gegenwart, die massenhaft dem Gebrauch von Spielzeug in Gestalt von Zeug, das nicht mehr Werkzeug ist, huldigt, ebenso einzufangen und zu verstehen. Das heißt, dass auch die Erwachsenen dringend dieses Einholens des Kindlichen bedürfen, welches ja niemals in ihnen gelöscht ist, sondern ganz im Gegenteil – wie der andere große Anwalt des kompetenten Kindes, Sigmund Freud, unterstrichen hatte – sogar weiter im Untergrund die »Geschäfte« lenkt, und zwar dies umso radikaler, je weniger es in Erscheinung tritt.