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SATELLITENLEIB
Techniken zur Herstellung einer Gruppenseele

 

erschienen als: Satellitenleib. Techniken der Herstellung einer Gruppenseele, in: Gott und die Katastrophen. Hg. M. Jäger / A. Roedig / G. Treusch-Dieter, Ed. Freitag, Berlin 2003

 

Die Diskussionen über die Religionen leisten sich gewöhnlich eine theoretische Distanz, in der wohl ein mitfühlendes, auch politisch korrektes Interesse mitschwingt. Ansonsten scheinen sich da auf geradezu klassische Weise Vernunft und Emotion gegenseitig auszuschließen, sodass der größte Teil der Ansätze, die es aus gegebenem Anlaß mit der Religion versuchen, von vornherein falsch angelegt ist. Auch diejenigen, die die ethische Dimension der Religion zum Anlaß einer vernünftigen Beschäftigung mit ihr nehmen, können ihre Ratlosigkeit hinsichtlich der Tatsache nicht verbergen, daß die Religionen sich nicht von sich aus gegenseitig respektieren und auch die fremden Götter schätzen. Man meint, es sei für eine Religion evident, daß Religionen grundsätzliche systemische Ähnlichkeiten untereinander aufweisen und deshalb Gleichberechtigung zu herrschen habe. Nun ist das Gegenteil der Fall. Anstatt also zu erklären, daß diese Konzentration auf das Innere der jeweils eigenen Religion - und ihre bekannten politischen Konsequenzen - nicht zulässig sei, will ich versuchen, Licht in diese tatsächlich problematische Logik zu bringen. Es geht darum, denjenigen Reflex zu untersuchen, der die Anhängerschaft einer Religion gegenüber denjenigen, die einer anderen folgt, in Reserve bringt, um es einmal so zu sagen. Es steht die Analyse der Konversion zur Gruppe und zweitens die Aversion gegenüber einer anderen an, sofern diese mit religiösen Mitteln aufrecht erhalten wird, d.h. es geht um die Religion jenseits der Grenzen der reinen Vernunft.

Der Begriff der Konversion oder des Bekenntnisses zu einer Gruppe verlangt ein weites Ausholen in die Tiefen derjenigen symbolischen Regimes, die die Vorstellungskraft auf die stärkstmögliche Weise zu binden in der Lage sind, und zwar die Vorstellungskraft der Vielen. Wenn MacLean und Wilhelm Wundt Recht haben, dann ereignet sich die Ausbildung einer Gruppe, die nicht einfach mit der biologischen Familie identisch ist, mit dem Totemismus, einer Episode im Leben der Kulturen, die nach Meinung der zitierten Autoren eine wesentliche Passage aller Kulturen darstellt. Die Gruppe wird durch die Beziehung auf ein Totemtier konstituiert, als Clan oder als Stamm, der dieses Totemtier als seinen Ahn betrachtet, als seinesgleichen, welches, falls es etwa tot aufgefunden wird, ein Recht auf eine ehrenvolle Bestattung und Beweinung hat. Dieses Tier, der Ahn, übernimmt für die Gruppe die Rolle des symbolischen Körpers, das heißt eines »Gruppenkörpers«, in dem die Eigenschaften der Gruppe kulminieren. Wundt unterstreicht, daß mit dem Totemismus die Ebene der politischen Organisationsmöglichkeit von Individuen erreicht wird, insofern das Totemtier die Charakteristika des zukünftigen Königs an sich hat, also wiederum eines mit einer spezifischen Identität ausgestatteten Wesens, das vornehmlich in seinem symbolischen zweiten Körper lebt. Auch wenn Kantorowicz tiefsinnig auseinander gelegt hat, daß der König zwei Körper besitze und die Beschreibung und rechtliche Kodifizierung einen großen Teil der mittelalterlichen Juristik ausgemacht hat, so geht die Linie vom Totemismus aus nicht nur in die Politik, sondern auch in den Religionen weiter, die sich durch ein die Grenze der Gattung überschreitendes Wesen, das die symbolische oder auch »kosmische« Funktion des Gruppenkörpers übernimmt, legitimieren. Wundt nimmt an, daß erst nach dem Totemismus die Götterdämmerung kommt, also die Himmel die Olympier und andere höhere und niedere, obere und untere Götter tragen. Auch wenn das Zeitalter des Totemismus allerlängstens vergangen scheint, so sind doch mit ihm die Grundzüge eines Symbolismus gestiftet, der sich die Ontologie einschreibt (also eine Ordnung des Seins nach sich zieht) und die Synchronisierung der Einzelnen bzw. der Vielen bewirkt. Die Suche nach dem »Gruppenkörper« ist immer auch eine nach den Gattungsgrenzen, also eine substanzielle Forschung, die sich auf die Umrißlinien (De-finition) der Identität richtet. Nach dem Körper des Totemtieres erfüllt der Königskörper oder auch der heilige Körper der Gottheit die Anforderungen, die an einen »Satellitenleib« zu stellen sind. Der Satellitenleib ist einer, der über den unter ihm versammelten Individuen (Untertanen) eine Brücke schlägt wie beispielsweise Nut dies tut, die ägyptische Himmelsgöttin. Wenn von einem solchen die Vielen bevatert oder bemuttert werden, dann ist eine Religion ins Leben getreten, die ihren Gott oder ihre Göttin vielleicht im Feuerbachschen Sinne projiziert, in dieser Projektion aber auch ein mächtiges Instrument eines doppelten Essentiierens besitzt, eines ins Lebens Rufens von Sein - einmal des Seins der Gruppe und einmal desjenigen der Gottheit selbst. Die Verknüpfung dieses Vorgangs mit den Prozessen der Identitätsbildung oder -stiftung, auch im Sinne einer Selbstverortung, macht das religiöse Bewußtsein heute wie gestern immun gegen die Zumutung, doch einmal genauer hinzusehen und zu erkennen, was eigentlich »wirklich« sei. Die Gruppenseele, die sich als Integral eines Versammlungsbogens unterhalb des Satellitenleibs formt, synchronisiert die Beter und Nichtbeter und läßt sie in gleichen Amplituden schwingen. Auch wenn es noch andere Aspekte der Religion gibt, so ist dieser derjenige, der die größte zugleich politische wie biopolitische Brisanz enthält. Auf die Verhältnisse der Religion gilt es also zu übertragen, was die Psychoanalyse hinsichtlich der Beziehungen zwischen Es und Über-Ich formuliert hat, nämlich die Erkenntnis, daß die ersten Spuren, die früheste Erinnerung, die älteste Vergangenheit auf eigentümliche Weise in den Raum des Wachlebens hineinrage. Die Entstehungsbedingungen der Religion müssen in einem weiten Ausholen erraten und nach dem ersten Grundsatz der Mnemotechnik, aber auch der Systemtheorie, zu Prinzipien der Sache selbst erklärt werden. Die auf die Ethik und auf die Moral, auf die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft sich verlegende Debatte wäre also zumindest um die sich etwas allgemeiner und schwieriger gestaltende Auseinandersetzung mit dem Thema der Seligkeit der Synchronisierten - die sowohl die Mikro- als auch die Makrosoziologie betrifft - , d.h. um die Reflexion des Heiles zu erweitern, also um die Möglichkeit jener Stärkung, die sich im »Chorgesang« ergibt. Im Chor singen auch weniger Begabte besser. Die Religion erzielt diesen Effekt durch den Schulterschluß unter den Mitgliedern der Gruppe, die ihr Echolot in die sakrale Sphäre einer resonanten Wesenheit senken. Religionen sind bekanntlich nicht nur dazu da, aus Menschen mittels Imperativen und Geboten hochanständige Bürger zu machen, sondern auch, sie auf einer primitiven Ebene ihres Seins, ihres Daseins und der Fortsetzung einer fragilen Existenz zu versichern und eben durch die Anwendung ein- und abstimmender Mittel »aufzubessern«.

Die Techniken der Synchronisierung beruhen auf den subtilen Wirkungen, die man entweder mit Hilfe der berühmten Theorie von Rupert Sheldrake, nämlich mit der Idee des morphischen Feldes, aber auch mit anderen Theorien interpretieren kann, ohne sie allerdings zu erklären. Der Satellitenkörpers - in der Genealogie zwischen Totemtier, Olympiern und monotheistischer Gottheit - entkommt in seiner symbolischen Brisanz und »Es-heit« linear oder monokausal ausgerichteten Erkenntnismodellen und fordert zumindest ein Paradox, eine Ambivalenz oder eine Kontradiktion als Zeichen dessen, daß ein erkennender Geist in seinem Kommentar die Grenzen seiner Fähigkeiten mitgedacht hat. Die Vorgänge auf dem morphischen Feld Sheldrakes erfüllen eine solche Forderung ihrerseits bereits in hinreichendem Maße - nämlich etwa der Umstand, daß ein Kreuzworträtsel eine Woche nach Erscheinen der Zeitung, in dem es sich befindet, leichter zu lösen ist als am Erscheinungstag der Zeitung selbst, da es bereits von Vielen gelöst worden ist, was als allgemeiner Gewinn auf dem morphischen Konto der Gattung eingebucht wird (man stelle sich jetzt das morphische Konto einer Religion vor, in der tausende von Jahren immer wieder dieselben Rituale und Gebete wiederholt worden sind). In jedem Fall lehrt Sheldrakes Theorie etwas über die Geheimnisse der Gruppe bzw. der Gattung, die sich der unmittelbaren Betrachtung entziehen und den prä- oder subreflexiven Leben dieser Gruppenseele zuzurechnen sind. Eine andere Theorie, nämlich die von Raymond Ruyer, einem französischen Wissenschaftshistoriker und »Biosophen«, hat sich vor allem mit der Gleichzeitigkeit einer Innen- und einer Außenansicht beschäftigt, die lebendige Organismen in Hinblick auf sich selbst zeitigen. Der »Satellitenleib«, von dem ich gesprochen habe, ist eigentlich seine »Erfindung«. Ruyer geht davon aus, daß sich lebendige Organismen selbst »verorten« können, sich selbst abtasten und ihre Integrität überprüfen, eine Art »survol«, also einen »Überflug« über sich selbst leisten würden. Diese Eigenschaft, die für die Organisation des Lebewesens, für sein Wachsen und Sich-Differenzieren unentbehrlich ist, stellt eine Resonanz her zwischen dem gegenwärtigen Status eines Organismus, der überbordenden Kreativität der Ur-Zelle und der Entelechie, dem lebendigen Bild des integren Organismus und sei aus diesem Grund auch zuständig für die Heilung, die vitale Korrektur des Beschädigten. Auf dieser Ebene wird, im Sinne Spinozas, der lebendige Körper vornehmlicher Gegenstand der Imagination und erzeugt Rückkopplungen, die nicht anders als symbolisch kodiert sein können. Die »Außenansichten« konvergieren in einem äußeren »sehenden« oder sorgenden Pol, auf den hin der sich über seinen Zustand Rechenschaft abgebende Organismus ausrichtet. Der sorgende Pol wird durch eine symbolische Rahmung (Epiphanie griech. Erscheinung der Gottheit, bakhti Sanskrit Dienst der Anbetung) dazu gebracht, auf erhöhter Frequenz sein feedback zu geben, und das vor allem dann, wenn Viele sich über ein und denselben »Satelliten« rituell und spirituell synchronisieren: es ist der Ahn, das totemistische Tier, die tiergestaltige Gottheit (Anubis, Hathor etc.), der ganz unten in der Erdmitte sitzende Aion, der Alte der Tage, den nach einer Nachricht Bocaccios die Arkadier verehrten, die Bewohner der tiefsten Unterwelt oder die der höchsten Oberwelt, die zentrierenden, an spirituellen oder geographischen Polen balancierenden Gottheiten, schwebende Wolkensäulen und niemals schlafende Augen, die die Verantwortung über die Selbstverortung der Lebewesen übernommen haben. Die Gegenstände der Religion bilden also zugleich die Bedingungen ihrer Möglichkeit, nämlich das Heil und die Heilung, das Ganzsein, die ultimative Rettung, Geburt, Leben, Tod und das unzerstörbare ewige Leben.

Wenn man schließlich, um die Reihe der Paradoxien noch fortzuführen, dem Auftauchen eines solchen Satellitenleibes mit Hilfe der Soziologie Gabriel Tardes theoretisches Profil geben wollte, müßte man noch einmal zurückkommen auf die von ihm postulierte grundsätzliche Gleichartigkeit der Menschen, die sich auch in den »Interferenzen von Nachahmungsströmen« zeigt. Es gibt also gleichsam eine Aktivität des Gleichwerdens, die aus dem Gleichsein entspringt. Insofern aber diese Interferenzen räumlich und zeitlich begrenzt sind, steht der Aktivität des Gleichwerdens paradoxerweise dann die Entdeckung der Ungleichkeit ins Haus, wenn der Transformator dieser Interferenzen bzw. sein symbolisches Manifest - etwa der »Satellitenleib« - im Plural auftaucht. Interferenzen stehen dann gegen fehlende Interferenzen, Resonanzen mit einem Pol des Heiles gegen fehlende Resonanzen mit einem anderswo lokalisierten solchen. Die Begeisterten können die Begeisterung für Anderes nicht nachvollziehen. Die Götter verbieten ihrerseits kurzerhand die Begeisterung für andere. Die Verbannung des Tieres, das doch das Erste unter den höheren Ungleichen gewesen war, aus dem Zentrum des Kults, läßt sich im Lichte dieser Überlegungen als Anordnung der jüngeren Götter begeifen, als Eifersuchtshandlung der neuen Generation, die sich ihrerseits ihre Schäfchen und Jünger sichern will. Es ist weniger der Appell an die Humanität, an eine neue kantische Stimmung, die die Religiosi dieser Welt davon abhalten wird, sich gegenseitig etwas anzutun, als die Meditation über den Verbrauch von wirklichen Symbolkörpern und Satellitenleibern, über diese endlose Abfolge von Verehrten, die sich gegenseitig ihre Verehrung mißgönnen. Falls sich die Theologie endlich einmal als Abfall- und Verdrängungswirtschaft verstehen würde, die grundsätzlich mit Problemmüll hantiert, mit nicht Entsorgbarem, dann könnte sie einen neuen Horizont aufreißen, von dem her das Verstehen religiöser Aversionen dämmerte, dem sich dann wiederum eine entsprechend komplexe Politik der Religionen nachordnete.