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TAST. FIGUR
Die Durchlässigkeit sensibler Membranen
Zu einem Element in der Malerei von Gunter Damisch

 

erschienen in: Gunter Damisch. Ausstellungskatalog, Galeria Academia, Salzburg 1998

 

Kinder malen nicht so, wie Erwachsene sich denken, dass Kinder malen. Sie malen nicht als erstes ein Schmetterlingchen und ein Häuslein und ein Kindlein mit schön abgezählten Fingerchen, ein Blümchen und ein Wölkchen. Wenn man ihnen nicht zu genau erklärt, was sie naturgemäß tun sollten (Induktion), setzt ihre in Bewegung geratene leibhaftige Axialität (oben unten links rechts Mitte Rand) eine Reihe von elementaren Figuren frei, die eine Art Ur-Kanon der Formen bilden. Die Beherrschung der einen Form - und hier geht es wirklich um Beherrschung im akrobatischen, physischen Sinn: wie kommt man mit dem ausfahrenden Pinsel wieder an seinen Ursprung zurück? - ermöglicht erst die nächste und so fort. Das erste ist das Kritzelknäuel, das berüchtigte Kritzi-Kratzi. Im Kritzi-Kratzi erfährt man, was eine Spur ist, eine lebendige Trasse: man sieht ihr, wie alle Kalligraphen wissen, ihre energetische Ladung an. Der Druck auf der Pinselspitze, die Geschwindigkeit oder Heftigkeit als Ausdruck einer affektiven Verfassung, die Verdichtung der Spuren bis zum Knollen etc. So gesehen ist das Kritz-Kratzi wirklich eine Art Kartograpie der Leidenschaft, und in der Tat geben Kinder oft die Auskunft, das eben erschienene Kritzelknäuel seien etwa Autobahnen bzw. »Fahrer«. Der angedeutete Versuch, mit dem Pinsel an den Ursprung einer Bewegung zurückzukehren, generiert in der Folge mehr oder weniger gelungene kreisförmigen Gebilde, die eine besondere Bedeutung erhalten in dem Moment, in dem ein entschlossener Stupf ein Zentrum markiert. Wenn wir uns auf die kreisförmigen unter den möglichen Urformen beschränken (die viereckigen Felder und die Kreuzformen beiseite lassend) und unsere Aufmerksamkeit den Ereignissen zwischen Zentrum und Peripherie zuwenden, können wir sehen, wie sich die erste Form - der Kreis - variieren läßt. Die Linie, die nicht gleich zu ihrem Ursprung zurückfindet, krümmt sich vielleicht zur Spirale, zu einer eingedrehten Halluzinationsfigur (Suche nach dem Zentrum), oder umgekehrt: sie läuft von dem sich als Zentrum zu erkennen gebenden Ursprung hin zu einer offenen Exploration möglicher Zirkumferenzen. Eine besondere Variante unter den Formen, die die Aufmerksamkeit auf die Zirkumferenz, die äußere Membran eines knollenförmig umschlossenen Feldes, lenken, stellt die sogenannte Tastfigur dar. Man erkennt hier, dass einem Kreis oder Ähnlichem auf der Umfassungslinie eigentümliche Flimmerhärchen wachsen, die der Figur etwas Vitales geben, etwas Primärbiologisches, vergleichbar etwa einem Pantoffeltierchen. Die Striche, meist noch über die Begrenzungslinie der runden Figur derart geführt, dass sie aussieht, als kämen die Fortsätze am Äußeren des Kreises tatsächlich irgendwie aus seinem Inneren heraus, haben buchstäblich die Funktion von Fühlern, die sich in eine unbekannte Gegend (terrain vague) ausstrecken. Diese Figur steht für ein extrem an der Erkundung seiner Umgebung interessiertes Subjekt, für ein Subjekt, das geradezu an seinen Rändern zu glühen scheint und geeignete Organe der Wahrnehmung (Fühler als lebende Striche) in sein Ambiente taucht. Die Fühler können gegebenenfalls auch als Füßchen interpretiert werden, möglicherweise als solche mit kleinen Saugnäpfchen für die universale oder kosmische Fortbewegung. Man beginnt zu ahnen, dass man in der Tastfigur eine Monade vor sich hat, die erste Eins, die sich auf die Wanderschaft machen möchte (Nomade). Die Tastfigur will überall hin, und das scheint ihr auch in der Regel zu gelingen. Sie erinnert gelegentlich an eine Kastanie, wobei der Zusammenhang, der die äußere Ähnlichkeit zwischen Tastfigur, Pantoffeltierchen und Kastanie stiftet, nicht ganz klar ist. Die Kastanie jedenfalls - so scheint es - unterscheidet sich von der Tastfigur darin, dass sie den Vorgang, den diese definiert (Fühlen nach Außen) umgekehrt hat in ein Abwehren nach Außen. Die Tastfigur ist im Gegensatz zur Kastanie nicht stachelig, vielmehr müßte man auf die Frage, wie sich denn die Taststriche auf ihrer Zirkumferenz anfaßten, zu Umschreibungen greifen, die auch in der Lage wären, beispielsweise Schneckenhörner zu charakterisieren. Vielleicht ist überhaupt die Schnecke, zumindest ihrem Modell oder Prototyp nach, eine Art Kreuzung zwischen Tastfigur (Fragment) und Spirale.

Die große Leistung, die zur Tastfigur führt, ist die herrische Biegung des Horizonts, die der Pinsel vornimmt. Diese Biegung trägt in sich schon die Affinität zu jenen Fortsätzen und Ansätzen (Tasthaare, Sinneshaare, Stacheln?); die Fortsätze und Ansätze stellen eine unter Druck gekommene (gebogene) Linie dar. Sie scheinen geradezu statisch notwendig zu werden, erstens um besagten Druck aus der Biegung der Linie abzuführen und zweitens, um das Unding einer »geschlossenen Anstalt« (Kreis) wieder aufzuheben. Die mehrdimensionale Funktion jener Linien ist auch in ihrer doppelten Bewertung als Fühler und Stachel deutlich; vielleicht ist diese Linie auch ein Kanal, in dem - je nach Bedarf - gewissermaßen Neues angesaugt oder abgewehrt werden kann. Dementsprechend ist sie einmal als schlauchartig und weich, ein andermal als sehr hart anzusehen. »Kanal« ist deshalb eine richtige Bezeichnung, weil in diesem Strich/Fühler zweifellos etwas zirkuliert, aus dem Zirkel kommend oder in ihn hinein sich begebend, vielleicht zweispurig (hin und retour). In diesem Kanal fließt also erstens der Punkt, der zum Strich wurde, und zweitens fließen in ihm die Sensationen, Wahrnehmungsquanten (Farbqualität) und das Hochgefühl, das im Kontakt mit Anderem entsteht. dass am Kopf dieses Fühlers ein Kopf, also ein echter gemalter Menschenkopf zu sehen ist, ist zwar eine späte Zutat zur Urform, scheint aber folgerichtig insofern, als im Menschenkopf tatsächlich eine Konzentration von Sinnesorganen (Augen, Ohren Nase, Mund) auftritt. Mit dem Kopf exploriert der ganze Mensch (Steher) das um ihn sich Wölbende (Regenbogen/Farbkrümmung). Die Analogie zwischen dem Pantoffeltierchen und einer Welt, die aus einem mit Menschen besetzten, in sich gekrümmten Horizont besteht, erhellt das Wesen universaler Formprinzipien, eine Mikro-Makro-Wahrheit, die auch zu erklären imstande ist, warum sich Menschen selbst insgeheim weniger einem anatomischen Atlas konform erleben, sondern vielmehr als solche Tastfiguren, als heiße plasmatische Gebilde (Eier), die sich in Elementen bewegen. Noch einmal zurück zur Kastanie (Oktober 1998): Wissen die im Stereopor der Schale gut gebetteten Früchte, wie die Hülle aussieht? Die die Vollkommenheit vorgestellter geometrischer Körper im unbedingten Willen zur Individuation in einer unendlichen Fülle von Knollenformen verhöhnenden Kastanien sind an dem weißen Fleck mit der Schale verwachsen (Placenta?); dieser weiße Fleck dient nicht nur der Aufnahme von Nahrung zum Aufbau der Frucht, er ist zugleich das Organ, mit dem die künftige Kastanie das Universum aushorcht.

© Copyright: Elisabeth von Samsonow, 1996.