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DER KÖRPER ALS PASSAGE
Meditation über das Wachsen

 

erschienen in: Quel corps? Hg. H. Belting / D. Kamper / M. Schulz, Fink, München 2002, S. 175-187.

 

Für Dietmar Kamper

VERSCHIEBEN VERRUTSCHEN ÜBERSETZEN

Wir wohnen einem theoretischen Vorgang bei, der den Körper als Konstrukt haben will, der ihn glatt in seine seine Armierungen - apparative, elektronische, sensorische - hineindekliniert. Der Körper wird, wie Leroi-Gourhan das vorgeschlagen hat, als technisches Kapital aufgefaßt, als Wunschmaschinenbetrieb, der exzessiv neue Submaschinen mit Spezialbewußtseinen hervorbringt. Die Gewißheit, dass nichts maschinenartiger oder elektronischer ist als dieser Körper, ist fast geschenkt. Die Geschichte der absichtsvollen Umformatierung des natürlichen Körpers in einen künstlichen - was in sich selbst nichts anderes sein hätte sollen als der Prozeß des Verstehens selbst dieses natürlichen Körpers - dauert nun ja schon einige Zeit an, sagen wir: etwa zweitausend Jahre. Der künstliche Körper, ursprünglich eben der symbolische Hauptgewinn in Körperverstehen, stellt sich aber als ebensowenig eindeutig dar wie der ehemalige natürliche, kurz: als schwierig. Mit Staunen verfolgt man, was alles mit ihm geschehen kann, wozu die in ihm suprematisierte materia prima nicht alles fähig ist. Er verändert sich gewissermaßen unter den Augen, weshalb man sagen kann, dass nichts leichter umgeworfen und aus der Fassung gebracht werden kann, als der Schematismus dieses künstlichen Körpers, der sich nur dann in einer begrenzten fragilen Homöostase erhalten kann, wenn er gut mit Energie versorgt wird, d.h. mit phantasmatischem Nachschub.

Nun ist aber die triumphale Zeit der metallenen Gehilfinnen des Hephaistos zuende und der künstliche Körper nicht mehr Dokument der menschlichen List, die hinter die Funktionen kommt und die Natur plagiiert und verdoppelt. Der künstliche Körper entsteht heute weniger durch als List, als durch Trotz; er ist nicht für den natürlichen Körper unterwegs, sondern gegen ihn, ein special agent für den Beweis, dass mit dem natürlichen Körper etwas nicht stimmt, ja dass es ihn eigentlich überhaupt nicht gibt oder geben kann. Eine mithin erfolgreiche Position innerhalb der entsprechenden Diskussion ist in der Erkenntnis zusammengefaßt, dass der Körper ein offenes Feld für alle möglichen Besetzungsversuche sei, die unter den Sammelbegriff "kulturell" fallen. Was ein Menschenkörper ist, das sei immer schon ein konditionierter, ein zugerichteter, ein beschriebener, besetzter, verbogener oder zurechtgebogener, der Körper der totalen Passion, wobei der Text dieser Passion im Allgemeinen die schlechte Botschaft von der totalen Enteignung enthält. Der größte Teil der intellektuellen Produktion zum Thema ließe sich im Übrigen in die Gattung "Schauertheorie" einreihen, eine Gattung, die durch die Spitzen der erreichten Unwahrscheinlichkeit entzückt . Wir reden also über die totale Enteignung, ohne dazu als solche Enteignete in logischer Hinsicht wirklich autorisiert zu sein, d.h. wir gehen davon aus, dass eine Selbsterkenntnis im Stande des Enteignetseins gerade bei so einem schwierigen Thema wie dem Körper durchaus möglich und ohne paradoxale Verstrickungen erreichbar sein kann. Die Enteigneten affirmieren also auf merkwürdige und einzigartige Weise ihren Defekt und verkünden ihn von der Kanzel, stellen dazu Anzeige gegen Unbekannt, nämlich gegen diejenigen, die die Enteignung betreiben und die nun als reine Implikationen des Diskurses verschwunden sind. Alles das, ohne dass gelegentlich eine der schwierigeren philosophischen Figuren bemüht würden, wie sie etwa für die heraklitsche Thesenbildung über den Fluß eingefordert werden mußte. Sokrates würde sich wundern über diese Körper, die mit jedem Satz, der aus ihrem Munde kommt, sich selbst durchzustreichen versuchen.

Es quakt also aus einem Naturding seine Negation heraus, was ja eine außerordentlich aufregende Tätigkeit sein könnte, wenn es gelänge, in dieser Aktion unendlich offene Möglichkeiten und das phantastische Labor für diejenigen Operationen, die die Materie des natürlichen Körpers in angemessene Denkfiguren der Künstlichkeit umarbeitet, zu sehen. Dann wäre gegen das lockere Herumschieben der Signifikanten nichts einzuwenden. Der künstliche Körper wäre so die wunderbare Ebene, auf der man zur Ausübung der ingenieurshaften Phantasie eingeladen ist, auf ihr blühten alle Formen des Transfers und der Transformation, die Organe fingen ein neues, emanzipiertes Leben an und die Neuronen knatterten fröhlich ihre Entladungen herunter. Der künstliche Körper ergäbe sich als Collage, ein nach einem kulturellen Schnittmuster zusammengesetztes Ding, dessen aus allen Fugen hervorkommende Bedeutung ihn immer wieder neu und aufregend arrangieren läßt.

Was aber, wenn solche Operationen vom Ressentiment gegen den natürlichen Körper diktiert sind, wenn die Natur in ihm eben nicht verstanden, sondern aufgehoben werden soll, restlos ersetzt durch einen neuen Holismus der heißt: "absolute Künstlichkeit"? Die "Kultürlichkeit" des Körpers zeigte sich dann als Konsequenz aus jener Definition der Kultur, die die Unmöglichkeit einer Synthese zwischen Natur und Kunst unterstellt. Derartiges finden wir in der Psychologie Freuds formuliert, in der ferner die Entdeckung eines natürlichen Restes in Gestalt der Triebnatur und des Unbewußten zur konstitutiven Beleidigung des inkulturierten Individuums ausgeschlagen hatte. Dieses beleidigte Individuum schlägt nun zurück, indem es die Natürlichkeit als unterstellte Natürlichkeit, historisch kontingente Natürlichkeit, also eigentlich wieder als Künstlichkeit demaskiert und damit den Grund für sein Leiden am natürlichen Test zu tilgen versucht. Innnerhalb der expandierenden Architektur des künstlichen Körpers gewinnt das sogenannte Körperschema an Bedeutung, das die psychische Antwort sowohl auf den Körperbesitz wie auch auf die kulturellen Restruktionen, die sich mit ihm verbinden, zur Darstellung bringt. Es interessiert die plasmatische Verformung dieses Schemas durch den Beschuß von unten - durch die alte Natur - und von oben - durch Kultur und Autorität. Und man sieht, dass dieses Körperschema keine Gelegenheit, sich zu deformieren, ausläßt, dass die Beschäftigung mit ihm zu einer ars deformationum führen muß, die die Verschiebungen der Elemente und topoi in diesem Arrangement vornimmt und erklärt.

In den Psychologien Freuds, Kleins und Lacans lassen sich als Vorgaben für diejenige Prozedur, die die Vibrationen des Körperschemas, sein Schiefwerden, seine kaleidoskopischen Veränderungen, seine theatralischen Neuinszenierungen erklären soll, vor allem linguistische Annahmen ausfindig machen, die für das Verschieben, Verrutschen und Übersetzen verantwortlich seien. Mit Hilfe einer linguistischen Rekonstruktion werden diese allgemeinen Rutschbewegungen dingfest gemacht und einer gewissen Logik unterworfen, wobei insgeheim immer noch als Motor der Sache der Conatus oder Selbsterhaltungstrieb des Lebewesens veranschlagt wird, jene Energie, die bereit ist, der Lebendigkeit, wo nötig, die Form zu unterwerfen - da offenbar die Grammatik in sich selbst nicht über die Ölquellen verfügt, die sie mit Energie für ihren Betrieb versorgen.

Was ist das nun, das dazu führt, dass uns die Verschiebungstätigkeit als unmittelbar einsichtige Angelegenheit vorkommt? Ist es nur unser Training im Romanhaften, unsere literarische Begabung und Ausbildung, die auch in Sachen des Körperlichen zum Tragen kommen will? Man kann nicht ausschließen, dass in den poetischen Figuren, die von Melanie Klein über das Seelenleben des Kleinkindes zum Besten gegeben werden, die poetischen Tableaus der literarischen Phantastik der Jahrhundertwende psychowissenschaftlich patentiert wiederauferstanden sind. Sie schreibt:

"Die aus den oral-, urethral- und anal-sadistischen Triebregungen entspringenden Phantasien des kleinen Mädchens von der ungeheuren Machtfülle sowie auch der physischen Größe und Stärke des väterlichen Penis bewirken (...), dass diesem überaus gefährliche und bedrohliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Auf dieser Basis entwickelt sich die Angst vor dem ›bösen Penis‹. Sie setzt als Reaktion auf die destruktiven Triebregungen ein, die (zugleich mit den libidinösen) sich gegen den Penis richten. In Fällen, in denen der orale Sadismus dominiert, bedeutet der in der Mutter - als deren Besitz - vorausgesetzte väterliche Penis vorwiegend ein Objekt des Hasses, Neides und der Zerstörung. An der Intensität der Haßphantasien, die dann insbesondere um den die Mutter befriedigenden väterlichen Penis zentrieren, liegt es, dass in gewissen Fällen die tiefste und leitende Angst des Mädchens - die Angst vor der Mutter - auf den Penis des Vaters als auf ein gehaßtes und gefürchtetes Anhängsel der Mutter verschoben wird."

Ich möchte jetzt nicht die Thesen, die in diese psychologische Modelle Eingang gefunden haben, diskutieren, sondern vielmehr den in ihnen implizierten Körper näher betrachten, wobei mich vor allem das unterstellte GLISSANDO unter allen Dingen dieses Körpers beschäftigen wird. Das heißt genauer: ich möchte einmal die Allgemeinheit der Verschiebungsoperationen im Körperschema auf ihre Voraussetzung hin befragen und dann, in einem zweiten Schritt, mich trotz denkbar ungünstigster zeitgenössischer Voraussetzungen für ein solches Unternehmen, noch einmal an den sogenannten natürlichen Körper heranwagen, von dem ich im Übrigen behaupte, dass gerade er in seiner Lebendigkeit die Bedingung der Möglichkeit der sich gegen ihn richtenden Toterklärungs- und Abschaffungsversuche abgibt, die aus ihm selbst ihre aggressive und dramatische Gestik speisen. Mir ist natürlich klar, dass eine Parteinahme für den natürlichen Körper wohl überlegt sein will. Mir liegt daran, eine neue Verschränkung zwischen natürlichem und kulturellem oder künstlichem Körper sichtbar zu machen, an der die Schwächen des gegenwärtigen Körperdiskurses offengelegt werden könnten, nämlich etwa der erwähnte Umstand, dass die These vom rein phantasmatischen Körper nur auf dem Hintergrund eines doppelt affirmierten und dann durchgestrichenen natürlichen Körpers haltbar ist.

Die Verschiebungsmodelle, die um einen linguistischen oder grammatischen Kern konstruiert sind, scheinen mir im Übrigen, bei aller Leistungsfähigkeit, nicht für denjenigen Prozeß gerüstet zu sein, den wir als Werden oder Wachsen bezeichnen. Denn in der Verschiebung wird eher auf Ersetzung und Übersetzung, auf Transposition, als auf jene Allmählichkeit der Veränderung, die wir im Wachsen vor uns haben, Wert gelegt. Die symbolische Ordnung durchkreuze ja gerade die natürliche, wird man mir entgegenhalten, und trotzdem bin ich der Meinung, dass im Wachsen eine vorgängige Operation des Organismus stattfindet, die in die symbolische oder künstliche Ordnung hineinragt. Ich wende mich also dem WACHSEN zu, das ich in sich für eine Ungeheuerlichkeit halte, wobei es ebenso ungeheuer ist, dass es in den meisten Überlegungen zum Thema Körper nicht vorkommt. Ich werde mich vor allem mit den Thesen von Gilbert Simondon beschäftigen, jenem Philosophen oder Biosophen, der Deleuze und Guattari entscheidend beeinflußt hat. Simondon ging davon aus, dass die physisch-biologische Individuation sich vor der psychischen ereigne und mit dieser ein bestimmtes Verhältnis unterhalte. Ich berufe mich auf seinen Beistand bei dem Versuch, so etwas wie ein Leibpriori wiederzugewinnen, das die natürliche Lebendigkeit des Körpers auch theoretisch wieder attraktiv macht.

WACHSEN UND INDIVIDUATION

Man nimmt also an, dass das Körperschema eine labile Anordnung ist, dem der auf die Psyche ausgeübte Druck Form gibt; dieser Druck bringt das System in eine konstitutive Unwucht, die verhindert, dass der natürliche Körper und das Körperschema jemals zur Deckung kommen. Wie sieht es aber nun aus, wenn man annimmt, dass der natürliche Körper seinerseits ebenfalls eine solche labile Anordnung ist, die zu keiner definitiven Form finden kann? Was für ein Körper ist das, der eine große Parabel von der Morula bis zum arboreszierenden Greis beschreibt und in jedem Augenblick ein Beispiel für die Unwahrscheinlichkeit seiner Funktionen zum Besten gibt? Was fangen wir eigentlich damit an, dass das, was wir einmal waren, nur so geringe Ähnlichkeit mit demjenigen hat, was wir sind? Mit welchen Gefühlen blicken wir in jenes photographierte Kindergesicht, von dem man uns versichert, es sei unseres? Wie mutet es uns denn an, wenn wir sehen, zu welch grotesken Verformungen ein alternder, vergreisender Menschenleib fähig ist. Was, wenn der Körper selbst, also das, was man als "natürlichen Körper" zu diffamieren sich erlaubt, sich als dieses gigantisches GLISSANDO, neben dem sich selbst die Phantastik der Kleinschen Verschiebungen fast bürgerlich ausnimmt, durch die Kombinatorik der Zellen, Elemente und Organe, als ein sich selbst bauendes, wachsendes Konstrukt mit wachsender Komplexität und daher wachsender Anfälligkeit enthüllt? Es bedarf keiner großen Anstrengung, zu erkennen, dass das Theater der Verschiebung, das urprünglich für den psychischen Einspruch gegen die Gegebenheit des physischen Körpers reserviert gewesen war, auch im Rahmen der Verkörperung oder Körperbildung gastiert. Das heißt, dass der Verschiebungsvorgang, der die Organe entlang gewisser Nähte ausreifen läßt, sie vergrößert und auffädelt, zunächst nichts anderes ist als eine unbeschreibliche Mutation, eine Transformation, ein Transvestitur, das Werden, das Wachsen, welches in den prominentesten philosophischen Entwürfen erstaunlicherweise zumeist mit der aus seinem Gegenteil geborgten Nomenklatur, nämlich als Verkleinerung oder sogar als Verschwinden gefaßt worden ist. Was nämlich verschwindet oder sich verkleinert ist die Ausgangssubstanz, die in die Individuation eingeht. Die Philosophen quälen sich nicht wenig mit der Motivation, die zu einem solchen Prozeß führt, da ja gerade die Autonomie und Selbstherrlichkeit der ersten Substanzen um so viel höher einzuschätzen gewesen wären als die zusammengekochten und zusammengebackenen Individuen. Nicht umsonst wird man daher in den meisten Fällen eine ontotheologische Andeutung der Art finden, dass ein erster kosmischer Unfall, eine Versuchung oder der Krieg zwischen Gut und Böse die Individuen als Kriegsschauplatz höherer Mächte, die im Widerstreit miteinander liegen, in einer Art energetischen Sinkfluges der Substanz hervorgebracht hat.

Das Wachsen gehört begrifflich zu einem Prozeß, den die Philosophie als Individuation zu denken versucht, d.h. also buchstäblich als Teilungsprozeß, der aus einer umfassenderen Substanz letzte unteilbare Einheiten herstellt. Das Individuum wird nach dieser Vorstellung als das Kleinste betrachtet, es entsteht aus dem Kleinmachen selbst, wobei das Kleinmachen so weit zu gehen hat, dass dem schließlich Übrigbleibenden auf keinen Fall noch etwas fortgenommen darf, wenn es nicht ganz zerstört werden soll. Interpretiert man jedoch den Teilungsprozeß als Zellteilung, hat man den paradoxen Fall eines Anwachsens der Zellen bei fortgesetzter Teilung. Man hat sich vorzustellen, dass dieser Teilung der Substanz bis hin zum Individuum dieses jedenfalls zugleich irgendwie intensiv auswächst, dass es sich anreichert und etwas akkumuliert, bis es genau denjenigen Status erreicht hat, an dem es sich wieder aufzulösen beginnt. Die klassischen Autoren erkannten als Ursache der Individuation die Materie bzw. verschiedene Ursachen, die in einem Seienden materialiter und formaliter, causaliter und finaliter wirksam würden. Die beherrschende Meinung der arabischen Philosophen, insbesondere die des Averroes, die Individuen entstünden durch eine Art Auszählung der Materie, wurde von den christlichen Philosophen in unterschiedlichen Argumentationsstrategien angegriffen, als deren bekanntestes Beispiel vielleicht Francisco Suarez' "Über die Individualität und das Individuationsprinzip" genannt werden kann . Suarez macht schließlich wieder die Form als Prinzip der Individuation gegenüber der Materie stark, was nichts weniger als das alte Laster der abendländischen Philosophie belegt, einen schwachen Begriff der Materie und schwachen Begriff der Natur zu bevorzugen, obgleich es an Vorschlägen zu einer intelligenten Naturphilosophie und entsprechenden Materiosophie keinen Mangel gab.

Wenn es richtig ist, dass die Zellen sich durch die Teilungsvorgänge hindurch zunehmend spezialisieren, aus einer Urzelle heraus, die in sich die Potenz, alles werden zu können, enthält, in verschiedene zunächst polypotente Spezifizierungen hinein teilen und dann in sehr spezifischen Funktionen ihre alte Omnipotenz verlieren, dann ist das Individuum in der Tat eine Art Spezialisierungssackgasse, das dead end einer ursprünglich unendlich offenen Zellpotenz. In diesem Modell kulminiert die klassische Individuationsphilosophie. Das Individuum beschreibt sozusagen den Weg der anwachsenden Sehnsucht nach derjenigen vorrangigen Sunstanz, aus der es sich auskristalliert hat. Das Individuum fällt hier sozusagen aus einem Zusammenhang als seine Konkretion heraus, als Aus- oder Unfall, der zugleich mit seinem Eintritt die gesamte Urzellenpotenz verbraucht. Ein solches Konzept erscheint deshalb als unbefriedigend, weil es neo-teleologisch die Zellpotenz in der Spezifizierung oder Konkretion sozusagen löscht und vergißt, die gesamte Zellkarriere als informativen Bestand des Organismus anzuerkennen. Individuum sein heißt hier, den ewigen Irrtum wiederholen, nämlich das Allgemeine hinter sich gelassen zu haben.

Das Wandern der Zellen, ihre Transformation, ihre Einreihung in Zellverbänden, die beginnen, bestimmte Funktionen zu performieren, die Aufwerfungen und Faltungen, die Zellgruppen entlang verschiedener Meridiane zustande bringen, schreibt sich dem ursprünglichen Zellpotential so ein, dass sich sagen läßt, die gewesenen Urzellen verfügen über eine Information über diejenige Passage, die sie vollzogen haben. Der lebende Organismus ist, ganz im Sinne der Heringschen Formel vom Gedächtnis als Eigenschaft der lebendigen Materie, selbst das Dokument der Passage, der Verschiebung der Zellvalenz und der Entfaltung der neuen Funktionen aus der allgemeinen Substanz, nichts weniger als ein ungeheures Kapital an zellulärer Information.

Man täte also gut daran, das Problem der Individuation aus der philosophischen Kampflinie zwischen Materie und Form abzuziehen, sie in einen anderen Horizont zu stellen, unter dem sie deutlicher seine informativen und auch mnemotechnischen Aspekte zur Geltung bringen könnte. Würde es nämlich gelingen, die Natürlichkeit des Körpers mit den Mitteln einer raffinierten und technischen Natur zu sichern, dann würde sich die alte Opposition mit einem Schlag aufheben lassen, es würde sich die Möglichkeit einer Verschränkung des psychischen und des physischen Körpers aus dem Thema des Wachsens, der Differenzierung und der Verschiebung, also aus der Passage heraus ergeben können. Es könnte der natürliche Körper als dasjenige Problem wiedergewonnen werden, an dem sich die epilogische Vernunft entzündet, die gewissermaßen Mühe hat, mit einem verrückten Leibapriori, das die überbegabte Technikerin Natur stets neu entwirft, Schritt zu halten. Die Labilität des psychischen Körperschemas, also derjenigen Vorstellung, die sich den natürlichen Körper anzueignen bemüht, hat zumindest einen ihrer Gründe in der ursprünglichen Fluidität mobiler indeterminierter Zellen, die an die Orte des Körpers ihre Erinnerung an die früheren Stadien ihrer Karriere transportieren. Eine anspruchsvolle Theorie des Werdens, eben ein richtig bedachtes Wachsen, wird dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass die Zellen in jedem Fall über die Information verfügen, dass sie alles hätten werden können, nun aber zu bestimmtem hingedriftet sind.

LEIBAPRIORI

Gilbert Simondon hat in den sechziger Jahren in seiner Dissertation mit dem Titel "L'Individuation à la lumière des notions de forme et de l'information" einige Überlegungen angestellt, die den Vortritt des vitalen Niveaus vor dem psychischen in der Individuationssequenz erläutern. Er schreibt, dass man zunächst verstehen müsse, dass das Psychische und das Vitale keine unterschiedenen Dinge oder Substanzen seien, und auch nicht verschiedenene Funktionen, die entweder parallelisiert oder übereinandergelegt seien. Zunächst finde die vitale Individuation statt, die bloße Produktion eines lebenden Organismus. Individuation, so führt er aus, ist nicht ein Spezialfall, eine Kaprize oder ein Accessoire einer lebenden Substanz, sondern macht gerade das Wesen derselben aus.

"L'individuation est ainsi considerée comme seule ontogénétique, en tant qu'opération de l'être complet."

Die vitale Individuation geht auf die Herstellung eines eigentümlichen Einzigartigen auf das so oder anders aussehende Lebenwesen hin, das allmählich aus seinem übersättigten Milieu ausfällt. Mit dem Vokabular der klassischen Philosophie würde man sagen, es sei die copia oder die copiositas der Welt, die bewirkt, dass sie diese Tendenz zur Ballung im Einzelnen entwickelt. Das sich auswachsende Individuum hungert in gewisser Weise sein überreiches Milieu ein wenig aus, zumindest müßte dies so sein für den Fall, dass der Individuationsprozeß die höchstmögliche Verdichtung oder Ballung seiner Potentiale im Individuum vorsehe. Mit seinem Milieu bleibt der ausfallende Organismus also stets in Verbindung, weshalb man verstehen müsse, wie Simondon sagt, dass die Individuation zunächst eine Sache der Beziehung sei, einer polarisierenden Beziehung zwischen dem Individuum und seinem Environment. Das Individuum ist, so gesehen, weder Subjekt noch Objekt, und eigentlich auch kein wirkliches Individuum, da es stets nur unterwegs zu einem solchen bleibt und sich von einem metastabilen Zustand zum nächsten bewegt.

Nun gibt es aber den Fall von Organismen, die nicht einfach nur Metastabilität auf Metastabilität folgen lassen bzw. dies nicht nur in der Logik eines sich einfach fortsetzenden Prozesses tun. Simondon behauptet, es gäbe eine Form der Intervention in diesen Prozeß, der diesen auf der Stufe relativ hoher Potentialität gewissermaßen verlangsamt oder arretiert. Er spricht von der neotenischen Verlangsamung, die die Definitivstellung larvaler oder fötaler Formen gegen die Ausreifung des vollen Gattungsexemplars bedeutet. Die Neotenie ist von Bolk zu Beginn des 20.Jahrhunderts in die Evolutionsdebatte eingeführt worden und seither von verschiedenen Autoren, unter anderem auch von Arnold Gehlen, zur Bestimmung des Spezifikum der menschlichen Gattung im Vergleich mit Primaten und Anthropinen herangezogen worden. Die neotenische Verlangsamung bedeutet, dass die Anreicherungs- und Optimierungsstrategien, die im Individuationsprozeß zum Ausdruck kommen, das ursprüngliche Potential auf einem hohen Niveau festschreiben, das heißt, den ursprünglichen Reichtum der alleswerdenkönnenden Zellen zu konservieren versuchen. Menschen bzw. menschliche Organismen stagnieren evolutionär, wachsen sich also gewissermaßen tatsächlich nur hinsichtlich der Größe und vermeiden die Deformation zur Vollform der Gattung als alter Spezial-Affe, um zugleich immer mehr als alles andere zuende Gereifte und Fertige sein zu können.

Die komplizierte kybernetische Maschinerie der Individuation erlaubt allerdings solche in sich problematischen Experimente nur unter der Bedingung, dass eine kompensatorische oder äquivalente Intervention dieses Problem irgendwie vermerkt. Zugleich mit der neotenischen Verlangsamung tritt also der von Simondon sogenannte Psychismus auf, der ein Integrationsversuch des Organismus in sich selbst und in seine Milieubeziehung mit neuen Mitteln darstellt. Dieser Psychismus, wie Simondon erklärt, bewirkt, neben der neotenischen Verlangsamung, dass der Organismus anfängt, sich auf zwei verschiedene Wellenlängen einzuschwingen und so sich selbst in seiner problematischen Homöostase zu "reflektieren". Ein derartig dual angelegter Organismus investiert seine drängende Wachstumsenergie nicht in ein beschleunigtes Erreichen der Entelechie, also in effizientes Altern, sondern in überlegenes Zurückbleiben.

"le psychique intervient comme un ralentissement de l'individuation du vivant, une amplification néoténique de l'état premier de cette génèse; il y a psychisme quand le vivant ne se concrétise pas complètement, conserve une dualité interne. Si l'être vivant pouvait être entièrement apaisé et satisfait en lui-même, dans ce qu'il est en tant qu'individu individué, à l'intérieur de ses limites somatiques et par relation au milieu, il n y aurait pas appel au psychisme; mais c'est lorsque la vie, au lieu de pouvoir recouvrir et résoudre en unité la dualité de la perception et de l'action, devient parallèle à un ensemble composé par la perception et l'action, que le vivant se problématise."

Das menschliche Wachsen stellt sich nach Simondons Thesen als eine Kombination von kreatürlichem Werdens mit dem Wirksamwerden einer experimentellen biologischen Bremse innerhalb desselben und dem Auftauchen des "Psychismus" als Regulativ dieses Prozesses dar. Der Psychismus ist demnach eine Art Ventil, mit dessen Hilfe ein Organismus eine redundante Problemlage auf einen anderen Regelkreis ableitet. Simondon schließt sich mit einer solchen Position an die Emergenztheorien an, die besagen, dass Geist und Seele nicht gestiftet zu werden brauchen, sondern sich selbst aus einer hinreichend komplexen natürlichen Organisationsform erhöben. Einen berühmten Vorgänger hat er hierin im Übrigen im Kopf der naturphilosophischen Schule in Cosenza des 16.Jahrhunderts, in Telesio, der die Schulphilosophie mit der Behauptung in Aufruhr versetzte, dass zur Geistwerdung die Unterscheidungsfähigkeit von kalt und warm die hinreichende Bedingung bilde.

Simondon unterstreicht, dass die Aufgabe des Psychismus nicht die Bewältigung der vitalen Organisation sei, die in ihrer Selbstbezogenheit darin fortfahre, sich selbst zu erhalten und auszubreiten:

"Entre la vie du vivant et le psychisme, il y a l'intervalle d'une individuation nouvelle; le vital n'est pas une matière pour le psychisme; il n'est pas nécessairement repris et réassumé par le psychisme, car le vital a déjà son organisation, et le psychisme ne peut guère que le dérégler en essayant d'intervenir en lui."

Vitale und psychische Organisation sind also nur insofern aufeinander bezogen, als der Druck des "verlangsamten" Vitalen die psychische Organisation als Einführung eines neuen Komplexitätsniveaus emergieren läßt. Das bedeutet, dass die Organisation des Vitalen selbst in keinem Moment Gegenstand oder Terrain der psychischen Organisation sein oder werden kann. Simondon erklärt also die Disparatheit von Leib und Seele als Effekt eines komplizierten Individuationsprozesses, der in sich selbst Probleme der Integration aufwirft bzw. auf Grund der Festschreibung des Larvenstadiums innerhalb des vitalen Individuationsprozesses in zwei Schleifen mit Rückkopplung ausläuft.

Das diesem verwickelten Sachverhalt angemessene Diagramm ist im Übrigen das Labyrinth, in dem die Latenz eines der beiden Prinzipien, die es stiften, nach wie vor eine nach oben offene Spekulation inspiriert. Historiker bzw. Interpreten des Labyrinths wie beispielsweise Hocke oder Kern teilen uns mit, dass es wohl eine psychische oder geistige Dimension der Anlage gibt, die sich aus einer ihr implizierten grundlegenden Orientierungsabsicht erschließen läßt, zum zweiten aber ein merkwürdig Physisches, das den Schluß nahelegt, die Windungen des Grundrisses bedeuteten vielleicht den eingefalteten Uterus oder seien die Notation einer verborgenen Choreographie, die sich ausschließlich durch "Nachtanzen" enthüllt. dass das Erfindung des Labyrinths synonym ist mit der Erfindung der Architektur muß für den scharfsinnigen Medientheoretiker ein Indiz dafür sein, dass es unmittelbar mit dem Leib in Verbindung gebracht werden muß, dass die Alte Welt diesen unter dem Horizont der Architektur, meist einer kosmograpisch oder kosmologisch relevanten Architektur, thematisiert hat. Eine Variante des kretischen Labyrinth-Mythos läßt Dädalus in dem Augenblick, in dem er selbst sich in seinem Bauwerk verirrt, eine unverhoffte Flucht antreten, und zwar als geübter Flieger, der sich aus dem Zentrum der Anlage davonmacht. Diese Nachricht bringt uns zurück zu unserem Thema der Psyche als "Ausflug" aus dem physischen Labyrinth - wobei anstelle des "physischen Labyrinths" eine in Bezug auf die Komplexität ihrer Organisation unter Druck geratene individuelle Physis zu lesen ist. Dädalus wird zu demjenigen, dem neben der Innenansicht seines Konstrukts, die dessen Wesen ausmacht, auch über eine zweite, andere Perspektive verfügt, über die Flugperspektive. Sein Labyrinth-Patent bezieht sich auf die beiden Perspektiven, die er als Vater aller Ingenieure einem einzigen verschlungenen Diagramm einschreibt.

DER SCHUTZENGEL ALS BIO-PASSAGIER

Raymond Ruyer gibt in seiner Schrift "Néo-Finalisme" der Frage Raum, in welcher Weise das Wachsen bzw. die mit ihm zusammenhängende Organisationstätigkeit des Körpers auf spezifische Weise auf das Zusammenspiel von Ur-Zellen oder Zellpotenzen und individuierten Zellen bezogen werden müsse. Das, was wir aus der spinozistischen Philosophie als conatus kennen, als den Selbsterhaltungstrieb, der den Organismus zuallererst bewegt, kehrt bei ihm als das Prinzip einer eigenartigen Selbstbeobachtung wieder, ja einer Selbst-Abtastung, die die Integrität des Organismus überprüft. Diese Selbst-Abtastung, insofern sie eben nicht Reflexion ist bzw. nicht-reflektierend verfährt, führt eine überindividuelle Instanz ein, die gleichwohl zu jedem Individuum gehörig ist und mit ihm selbst entsteht . Ruyer ordnet ihr konsequent die Ur-Zellenpotenz zu, das Potential der noch nicht eindeutigen Zelle, die das "Wissen" über das Werden und Wachsen des Individuums enthält und so eine stets präsente Dimension dessen, wie das "Ganze" gemeint sei, beisteuert. Da diese Ebene vor die individuelle gerückt werden muß, obgleich sie diese gewissermaßen schneidet und durchdringt, wird ihre Vorgängigkeit unvollständig erkannt bzw. als Bewußtsein, das eigentlich "höhere Bewußtlosigkeit" ist, erschlossen: Ruyer schlägt vor, jene Merkwürdigkeit als survol-Prinzip zu bezeichnen. Damit meint er die Fähigkeit, eine Art "Außenansicht", ja Draufsicht ohne klare Urheberperspektive von sich selbst herzustellen. Er meint, man sehe sich irgendwie "von außen/oben", lokalisiere sich stets mit Hilfe eines Radarsystems, das eben nicht die bekannte klassische Perspektive des sehenden, blickenden Subjekts sei . Nicht nur, dass diese Funktion wie ein über einem schwebender Stern die Selbstverortung erledigen könne - die ja die Übung und den Zweck des Labyrinths ausgemacht hatte -, sie ist auch zuständig für die Heilung, die dann einsetzt, wenn an dem Individuum eine Beschädigung bzw. Verletzung registriert wird . Diese Funktion steht also immer auch für das mögliche Heil, die lebendige Integrität des individuellen Organismus, die sich, sofern er über Psyche verfügt, deren bewußter, reflektierenden Fahigkeit entzieht.

Was Ruyer in seinem Buch allerdings der Urzellenweisheit zuschreibt, der in die Individuation eingegangenen, mit ihr aber nicht gelöschten Potenz, könnte man allerdings auch auf den bekannten Himmel der Schutzgottheiten und -engel zurückführen und sagen, dass in Gestalt dieser aus den Wolken agierenden oder geflügelten Wesen eine survol-Funktion bebildert worden ist, die gewissermaßen jeder lebendige Organismus aus sich selbst heraussetzt, d.h. es ginge jetzt darum, mit den angemessenen Buchstaben eines Alphabets der Vitalität am Beginn des biotechnischen Zeitalters jene Erzählungen neu schreiben, die uns sonst gewöhnlich die Katecheten und fromme Großmütter nahebrachten. Es würde sich erklären lassen, warum grundsätzlich die Welt des Heiles auf zwei Ebenen angelegt worden ist, ganz so, wie es auf den Votivtafeln vorgeführt wird, denen eine der eine der Beobachtung des unterhalb "in der Welt" agierenden Subjekts dient. Der aufgeklärte Verdacht, dass diese "höhere" Ebene eine von dem Individuum selbst ausgehende Projektion ist, ließe sich nunmehr weder erhärten noch widerlegen, nur noch dahingehend mildern, dass dieses Individuum sich ja durch eine ihm unerklärliche, es selbst überschreitende Tätigkeit in ihm selbst aufgefordert sieht, eine solche "Projektion" vorzunehmen. Wenn das Individuum gerade durch seine Individuation, durch sein Wachsen, dazu gezwungen wird, eine Außen- und eine Innenperspektive in sich zu vereinigen, dann ist paradoxerweise an diesem Punkt die Religion in symbolischer Hinsicht nicht zu umgehen. "Paradoxerweise" sage ich deshalb, weil die Religion mit ihrer höheren bzw. vielleicht auch tieferen, jedenfalls aber anderen Ebene, strukturelle Kongruenzen mit der Biophilosophie etwa Ruyers aufweist, d.h. auch aus einem elementaren vitalen Kern heraus begriffen werden kann, nämlich aus der zellulären oder biologischen Allheit, wodurch sie aber eben genau nicht erledigt, sondern als symbolische Instanz gestärkt wird.

Im Übrigen buchstabierte Simondon - das muß natürlich auch gesagt werden - eine Auffassung nach, die in der europäischen Philosophie seit der Renaissance immer wieder, unter verschiedenen Vorzeichen, vertreten worden ist. Schellings Denken beispielsweise kreiste genau um jenen Punkt, an dem das Vitale in das Psychische umschlägt und die "bloße" Natur als Grund der Seele sich zurückzieht, um dem neuen System Raum zu geben. Aber Simondon denkt nach Nietzsche, und er geht nicht von einer träumenden, sondern von einer technischen Mutter Natur aus, die ihre komplizierteren Hervorbringungen oder Exemplare einem hohen Integrationsdruck aussetzt. Das Psychische schreibt sich einem anderen Horizont ein, auch wenn es das Motiv, unter dem es sich konstituiert, weiterhin als Problem hat, allerdings hier als durchschlagenden Trieb, als das Vitale, die Sexualität.

WACHSENDE NATÜRLICHKEIT UND EPILOGIK

Allein schon durch das Zugeständnis, dass Körper wachsen, gerät man in den Sog von Postulaten, die die Behauptung, Körper seien immer schon nichts als künstliche oder kulturelle, abenteuerlich und unannehmbar erscheinen lassen. Man hegt mit gutem Grund den Verdacht, dass diese Behauptung immer noch auf einem atavistischen metaphysischen Reflex beruht, der Seele und Geist als gestiftete Urphänomene gegen ihr Objekt, den passiven tierischen Körper, setzt. Man sieht also selbst in jüngeren Dekonstruktionsversuche des kulturellen Körpers primitive Konzept der Materie und das sakrosankte Konzept der Seele der alten Metaphysik wie alte Veteranen zäh an ihrer Geltung festhalten. Die Körpertheorie ist da nicht ganz auf der Höhe und gibt, freiwillig oder unfreiwillig, Prinzipien Kredit, die man bei Tage eigentlich nicht gerne bei sich zu Hause hat.

Zumindest erhellt sich auf dem Hintergrund der Geschichte einer anspruchsvollen Naturphilosophie bzw. einer Philosophie der Emergenz, dass sich mit einem nur einigermaßen reflektierten Begriff der Natur die Dualität von Natur und Kunst und von Natur und Kultur aufheben und an die Stelle der Ur-Oppositionen generische Sequenzen gesetzt werden müssen, die mit der wachsenden Unwahrscheinlichkeit auf wunderbare Weise Schritt halten können Sobald man solche generische Sequenzen anerkennt, also sich aus dem Wachsen und dem Werden herleitende Organisationsformen, ist die Natur als Mutter wieder - wie Haeckel dies wollte - in ihre vollen Rechte eingesetzt, die alte Ober- und Übertechnikerin, die als Entlastungsgerinne nutzt, was immer dazu angetan sein kann, um ihre Ballungstätigkeit in den Individuen als Ausfällung des Superreichtums nicht zu gefährden. Statt, wie Lacan es tat, vom Drängen der Buchstaben im Unterbewußten müßte man vom Drängen der Organe im Leibe reden, die in ihrer eigenen überdeterminierten Verdichtetheitgesetzt energetische Horizonte einführen und die epilogische Vernunft vor schwierige Aufgaben stellen. Und auf die Frage: wo sind wir? schreiben wir am Schluß des Epilogs: wir befinden uns gerade in einer Individuationspassage.

© Copyright: Elisabeth von Samsonow, 2003.